China – Immobilienwahnsinn


Quelle: Welt-Online

Preise erreichen absurde Höhen – Von Wohneigentum können die meisten Chinesen inzwischen nur noch träumen – Regierung sieht deshalb Stabilität der Wirtschaft in Gefahr

Peking – Das chinesische Wort „Woju“ bedeutet Schneckenhaus. Außerdem trägt eine bei Millionen Chinesen extrem populäre Fernseh-Serie diesen Namen. Diese TV-Reihe ist deshalb so beliebt, weil sie so nah am realen Leben entlang erzählt ist. Skrupellose Immobilienspekulanten kommen darin vor, rücksichtslose Gier, unbezahlbare Kredite, korrupte Funktionäre – und natürlich die Liebe. Der TV-Stoff ist so realistisch, dass die Zensur anfangs versuchte, sie abzusetzen. Da aber Regierungschef Wen Jiabao die Serie jüngst adelte, ist von Absetzen keine Rede mehr. Der Premier erklärte, er wisse sehr wohl wie es ist, in einem „Woju“ zu leben – und meinte damit eines der Hauptprobleme der chinesischen Gesellschaft, in der grassierende Landflucht auf explodierende Immobilienpreise trifft. Wen sagte, er stamme selbst aus einer Familie, die zu fünft auf neun Quadratmeter Raum habe leben müssen.

Reporter der „Chongqing Zeitung“ überprüften in Wens Heimatstadt Tianjin diese Angaben. Die Gasse „Damouanjian“ (vor dem Nonnentempel) im Beichen-Bezirk der Altstadt, wo Wen aufwuchs, gibt es noch. Sie ist unverändert ärmlich, mit grauen Mauern, ebenerdigen Wohnhöfen und verschlissenen Holztüren. Alte Nachbarn erinnerten sich an Wen, seine Eltern und Geschwister. Die Familie wohnte tatsächlich in einem Raum von neun Quadratmetern.

Die Serie „Woju“ thematisiert aber nicht nur die Wohnungsnot, sondern sie übt Sozialkritik an Chinas Reformkurs. Der 27-jährige Profirennfahrer Hanhan, der als Autor aufsässiger und spöttischer Blogs im Internet Furore macht, schrieb über die Fernsehserie: „Für ihren Traum vom Eigenheim ächzen die Hauptdarsteller unter der Last ihres Besitzes wie die Schnecke unter ihrem Haus. Das ist die Generation, die Chinas Zukunft bestimmen will. Die Bürde, in den kommenden 20 bis 30 Jahren ihr Wohnen abzuzahlen, zerstört jede Minute ihrer Lebensfreude und ihre positiven Visionen für die Zukunft. Hauseigentums-Sklaven zu werden ist eine Tragödie der heutigen Jugend.“

In Fernsehen und Realität profitieren nur wenige von den utopischen Preisen. Neue Millionäre verdanken ihren Reichtum Bodenspekulation, Immobilien und Beziehungen. 2009 stiegen die Preise für Wohnungen auf Pachtland in 70 Großstädten um ein Drittel. Das Sozialblaubuch der Akademie für Sozialwissenschaften beschreibt, dass Wohneigentum inzwischen für 85 Prozent aller Chinesen und auch für die Mittelschichten unbezahlbar geworden ist.

Millionen junger Chinesen müssen erkennen, dass sie sich mit der Kreditaufnahme übernommen haben. Das Problem wird zum Top-Thema der 3000 Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses, der noch diese Woche in Peking tagt. Der Abgeordnete Pan Qingling nennt es absurd, wenn Wohnungspreise in Peking teurer als die in Tokio sind, die Einkommen aber weit unter den japanischen liegen. Wohnungen zwischen dem fünften und vierten Autobahnring, zehn bis 15 Kilometer vor der Pekinger Innenstadt, kosten ab 2200 Euro pro Quadratmeter, innerhalb des vierten Rings dann zwischen 3800 und 7000 Euro. Pan warnt, China nicht zum Japan der neunziger Jahre werden zu lassen. Die dort geplatzte Immobilienblase bremste abrupt die Wirtschaft ab.

Die politische Brisanz insbesondere für die Mittelschicht erläutert der frühere Asien-Chefvolkswirt der Investmentbank Morgan Stanley, Andy Xie: „Die Stabilität moderner Gesellschaften hängt davon an, ob ihre Mittelschichten mit ihrer Situation zufrieden sind. Der hohe Bodenpachtpreis, den sie für ihre Wohnung zahlen, ist eine Art Steuer auf die Mittelschicht geworden und verlangsamt ihr Wachstum. Wenn es so weitergeht, wird China zu einem Land mit einer kleinen Gruppe Superreicher, einer riesigen Klasse ohne Eigentum und einer kleinen Mittelschicht. Eine solche soziale Struktur ist nicht gut für langfristige Stabilität.“

Als Besitzer des Bodens könnte der Staat eingreifen, meint der Wirtschaftsforscher Yin Bocheng von Shanghais Fudan Universität. Wenn lokale Regierungen zwei Drittel ihres Baulandes zu vernünftigen Preisen an Baugesellschaften abgeben, die im Gegenzug bezahlbare Appartements bauen, würden die Immobilien-Preise sofort fallen. Yin bedenkt aber nicht, dass Chinas Städte und Kommunen sich über ihre Landpacht-Verkäufe finanzieren. Pekings Ministerium für Land und Boden rechnete aus, dass sie 2009 bei Verkäufen von 200 000 Hektar Boden umgerechnet mehr als 175 Mrd. Euro umgesetzt wurden. Zudem sind die Käufer oft Staatsunternehmen, die Zugang zu Krediten der Staatbanken haben. So wäscht eine Hand die andere. Chinas Wirtschaft wurde vom Immobiliengewerbe „gekidnappt“ stellt lakonisch die „China Business Daily“ fest. Die Zeitung schätzte das Gesamtgeschäft mit Wohnungen 2009 auf mehr als 600 Mrd. Euro, ein Fünftel des Bruttoinlandsproduktes.

Sehr passend heißt Pekings aktueller Roman-Bestseller „Yiju“ (wie Ameisen wohnen). Auf seinem Titel steht: „Neben dem Schneckenhaus gibt es auch den Ameisenbau.“ Gemeint sind die Wohnverhältnisse junger Uni-Absolventen, die vom Lande kommen, in den Metropolen studierten und dort bleiben wollen. Arbeit finden sie angesichts Chinas Akademikerschwemme mit jährlich 6,3 Millionen neuen Absolventen nicht – oder nur in schlecht bezahlten Jobs. Sie leben am Rande Pekings in billigen Mietshäusern – eben „wie die Ameisen“.

Günther Schmidt

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